Die "Reichskristallnacht" in Frankenthal
Die Nacht vom 9. auf 10. November 1938 bleibt den Juden weltweit als „Reichskristallnacht“ bis heute in Erinnerung. In 48 Stunden wurden in Deutschland mindestens 91 Juden ermordet, mehr als 1400 Synagogen und Beträume verwüstet und etwa 7500 Geschäfte geplündert.
Drei Tage vorher hatte der 17-jährige Herschel Grynspan den deutschen Diplomaten Ernst von Rath in Paris erschossen. Er wollte mit dieser Tat seine Eltern rächen, die im Oktober nach Polen abgeschoben worden waren. Den Nationalsozialisten kam seine Tat gerade recht. Sie hatten schon lange einen Anlass gesucht, um die "Arisierung der deutschen Gesellschaft" - so der offizielle Sprachgebrauch - zu beschleunigen. Die Juden sollten noch stärker zur Auswanderung bewegt und ihr Vermögen beschlagnahmt werden.
Auch in Frankenthal wurde am Morgen des 10. November die Synagoge in der Glockengasse in Brand gesteckt. Der Brand der Synagoge war allerdings nur der erste Teil der schrecklichen Tragödie. Noch während die Feuerwehr die Flammen bekämpfte, zogen Frankenthaler Nationalsozialisten durch die Stadt und verwüsteten zahlreiche jüdische Geschäfte und Wohnungen. Ihnen folgte wenig später die Geheime Staatspolizei (Gestapo), die 23 Frankenthaler Juden in „Schutzhaft“ nahm, unter anderem Julius Abraham und Carl Schweitzer. Sie wurden am nächsten Tag in das Konzentrationslager Dachau bei München überführt. Zahlreiche Frankenthaler wurden Zeugen der Zerstörungen und Plünderungen, die bis in die späten Nachmittagsstunden dauerten.
Die jüdischen Frauen und Kinder wurden auf Anordnung der NSDAP-Gauleitung noch am 10. November aus der Pfalz ausgewiesen, unter anderem die Familie Schweitzer aus der Bahnhofstraße. Karl Schweitzer (1879 -1946) Mannheim übernahm das um 1876 eröffnete Geschäft von seinem Vater Isaak Schweitzer. Er heiratete die Katholikin Therese Paul aus Mannheim, wurde in der „Reichskristallnacht“ verhaftet und im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Wohnung und Geschäft wurden verwüstet. Die Familie Schweitzer überlebte die NS-Zeit im Haus von Heinrich Paul, Vater von Therese Schweitzer, in Mannheim.
Erinnerungen eines Frankenthaler Bürgers
Erinnerungen und Eindrücke eines damals fünfjährigen Jungen
Die Synagoge brennt
Ich bin fünf Jahre alt. Es ist schon dunkel draußen, aber noch keine Zeit zum schlafen gehen. Ich stehe am Mansardenfenster meines Elternhauses in der Bahnhof- straße 19. Ich schaue zur Glockengasse und sehe den Feuerschein der brennenden Synagoge, den Funkenflug. Ich habe Angst: Wird das Feuer auch auf unser Haus übergreifen? Mutter beruhigt mich. „Unser Haus wird nicht brennen“, sagt sie.
Am nächsten Tag, oder war es am Morgen des gleichen Tages, ich kann es nicht mehr zuordnen. Ich bin auf dem Weg zu meiner Großmutter. Sie wohnt in der Gutenbergstraße.
Vor dem Haus des Synagogendieners in der Glockengasse ein Menschenauflauf. Ich höre Schreie und Gegröle, ich höre wie Möbelstücke und Geschirr zerschlagen werden. Die Frau des Synagogendieners schreit: „Nicht das Fläschchen für mein Kind, bitte lasst mir das Schnullerfläschchen für mein Kind.“ Ich höre das Klirren des Glases. Die Frau weint.
Ich bin erschüttert. Lachend und mit roten Gesichtern laufen Leute aus dem Haus. Einige kenne ich. Mich packt die Angst. Ich laufe weiter Richtung Gutenbergstraße. In der Vierlingstrasse werden Gemälde, Bücher und Papiere aus dem Fenster geworfen. Da wir Kinder zu Hause schon von klein auf zu einem sorgsamen Umgang mit Büchern erzogen wurden, begann ich die Bücher, die in der Gosse lagen, aufzusammeln und säuberlich am Straßenrand aufzustapeln. Ein stadtbekannter SA-Mann, Erich M., kam herbeigerannt und brüllte: „Hau ab, du Judenbankert oder ich trete dir das Kreuz ein.“ Wieder erfasste mich panische Angst. Ich renne so schnell ich kann ohne anzuhalten zur Großmutter in die Gutenbergstraße.
Mit meinen Fragen stoße ich auf unerbittliches Schweigen. Nur einmal höre ich einen der Erwachsenen zu mir sagen: „Du bringst uns noch alle nach Dachau mit deiner Fragerei.“ Ich frage nicht mehr.
Die jüdischen Geschäfte in der Stadt sind geschlossen, die Schaufenster zugeklebt. Ich höre eines der Lehrmädchen in unserem Geschäft sagen: „Die Juden werden alle rausgeschmissen, die haben unseren Herrgott ans Kreuz genagelt.“
Die Schadensliste der Familie Abraham
Ab 1. April 1937 hatten Julius und Elsa Abraham ihr Möbelgeschäft in der Wormser Straße 27 an die Geschwister Lina Schüssler und Hermann Völker (Möbelhaus Schüssler & Völker oHG) verpachtet. Sie wohnten weiterhin in ihrer Wohnung im Obergeschoss. Am 10. November wurde auch die Wohnung von Julius und Elsa Abraham geplündert und zahlreiche Einrichtungsgegenstände zerstört.
Auf zwei Seiten hat Julius Abraham die Schäden aufgelistet. Den Schaden schätzt er auf 7320 RM. Der Wert der noch vorhandenen defekten Möbel schätzt er auf 1000 RM.
"Sühneleistung der Juden"
Bei einer Konferenz des damaligen Reichsinnenministers Hermann Göring am 12. November, 1938 wurde beschlossen, dass Deutschlands Juden eine "Kontribution" von einer Milliarde Reichsmark auferlegt wurde – für die ihnen zugefügten Schäden in der "Reichskristallnacht".
Aufgrund der 2. Durchführungsverordnung über die Sühneleistung der Juden vom 19. Oktober 1939 (RGBl. I S. 2059) wurden die Abgaben um weitere 5 Prozent erhöht.
In einem Schreiben vom 30. Oktober 1939 an Julius Israel Abraham wurde diese Forderung vom Kreiswirtschaftsberater Scholl erhoben. Scholl war hauptamtlicher Bürgermeister der Stadt Frankenthal.
Laut eines Dokumentes hat Julius Abraham überwiesen:
Verfügung am 15.12.1938
Judenvermögensabgabe 1. Rate 13 000.00 RM
31.7.1939
Überweisung Judenvermögensabgabe 13 544.10 RM
9.8.1939
Überweisung Judenvermögensabgabe 13 500.00 RM
Siehe auch Text weiter unten
Prozess gegen die NS-Täter vom 10. November 1938
1950 wurde gegen 17 mutmaßliche Teilnehmer der Plünderungen und Zerstörungen in der "Reichskristallnacht" vom 10. November Anklage erhoben. Vier von ihnen wurden wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt. Sieben wurden freigesprochen, gegen sechs wurde das Verfahren eingestellt.
DIE RHEINPFALZ Frankenthaler Zeitung
vom 27. Juni 1950 berichtet:
Die Frankenthaler Judenpogrome von 1938 vor dem Schwurgericht
Dreitägige Verhandlungsdauer - Am ersten Tag Vernehmung der siebzehn Angeklagten
Die zweite außerordentliche Tagung des Schwurgerichts Frankenthal wurde gestern vormittag mit dem dritten Fall fortgesetzt, der die Judenverfolgung des Jahres 1938 betraf und siebzehn Angeklagte vor das Forum dieses Gerichts brachte, wo sie sich wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu verantworten haben. Es ist natürlich, dass dieser Komplex in der Öffentlichkeit großem Interesse begegnet; wenn auch die verurteilungswürdigen Ausschreitungen schon nahezu zwölf Jahre zurückliegen, so sind sie in der Erinnerung doch haften geblieben. Viele Zuhörer hatten sich daher im unteren Saal des Feierabendhauses eingefunden.
Nachdem der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Knögel, die Personalien der Angeklagten festgestellt hatte, ergriff erster Staatsanwalt Dr. Fleischmann das Wort zur Anklagerede, die sich in zwei Teile gliederte, da an dem 10. November 1938 zunächst die Synagoge in Brand gesteckt wurde und im Laufe des Tages die Juden Verfolgungen ausgesetzt waren. Zum ersten Punkt führte der Anklagevertreter aus, daß die mutmaßlichen Täter, der damalige Sturmführer Kummermehr und der Sturmbannführer Schaaf (Oppau) nicht mehr leben und die Mitwirkung anderer Personen nicht mehr feststellbar sei. Insoweit wurden gegen die jetzt Beschuldigten keine Anklage erhoben. Dagegen wird ihnen allen - dem einen mehr, dem anderen weniger - zur Last gelegt, daß sie sich auf Anweisung des im Jahre 1942 hingerichteten damaligen Kreisleiters Theo Gauweiler und unter Führung von Ernst Held, der ebenfalls nicht mehr am Leben ist, zu einer Terrorgruppe zusammengeschlossen hätten.
Diese Bande, bestehend aus etwa 20 Mann, fährt die Anklageschrift fort, sei zunächst in Frankenthal in jüdische Geschäfte und Privatwohnungen eingedrungen und habe dort die Einrichtungen zerstört. In den Mittagsstunden habe sich eine Rotte in einem von dem Angeklagten Schappert bereitgestellten Lastzug in die Dörfer Roxheim, Dirmstein, Großkarlbach, Kirchheim a. d. Eck, Lambsheim und Heßheim begeben und Gewalttäigkeiten gegen jüdische Mitbürger verübt und dabei in Dirmstein, Großkarlbach und Kirchheim a. d. Eck. die Geschäftsinhaber mitgenommen und ins Gefängnis Frankenthal eingeliefert. Die Terrorgruppe habe am Nachmittag ihre Aktionen in Frankenthal fortgesetzt, bis schließlich von höherer Stelle abgeblasen und Polizei eingesetzt worden sei. Ach da noch habe Kreisleiter Gauweiler als verantwortlicher Leiter dieser wüsten Ausschreitungen versucht, den Einsatz der Polizei zu verhindern.
In sorgfältiger und schwieriger Kleinarbeit hatte im Lauf der Jahre die Strafverfolgungsbehörde den Umfang der Beteiligung jedes Einzelnen der auf der Anklagebank Sitzenden festgestellt. Zunächst hatten alle Beschuldigten das natürliche Bestreben, sich von ihren Verfehlungen zu distanzieren, während andererseits die Tatzeit so weit zurückliegt, daß das Erinnerungsvermögen stark notgelitten hat. Trotzdem kann der Voruntersuchung die Anerkennung nicht versagt werden, weil man den unbedingten Eindruck gewinnen muss, daß allen Spuren nachgegangen wurde, alle Vorgänge aufzuhellen.
Der ganze gestrige Vormittag war mit der Vernehmung der Angeklagten ausgefüllt, die Dank der überlegenen Verhandlungsführung des Vorsitzenden sich flott abwickelte und um die Mittagsstunde beendet werden konnte.
In Frankenthal waren die jüdischen Wohungen und Geschäfte des Synagogendieners Benjamin, Edmund Kahn, W. Meißel, Jakob Wolf, Johanna Roth, Ludwig Adler, Dr. Robert Blum, Dr. Emil Rosenberg, Siegfried Hirschler, David Leva, Oskar Hirsch, Julius Abraham, Adolf Frank und Dr. Siegfried Samuel heimgesucht oder zerstört worden.
Im Landkreis Frankenthal waren die Familien Blum (Roxheim), Hirsch (Dirmstein), Ste(...) (Großkarlbach), Strauß (Kirchheim a. d. Eck), Ohmer (Heßheim) und Simon Lang (Lambsheim) die Opfer des Rollkommandos.
Schappert als Fahrer des Lastzuges brachte die Terrorgruppe aufs Land. Er gab an, nichts anderes als das getan zu haben und meistens bei seinem Fahrzeug geblieben zu sein. Er habe auch einmal ein jüdisches Haus betreten, aber nichts zerstört. In Heßheim habe er „vermutlich“ eine Frau geschlagen. Von dem Mitangeklagten Schneider, der die ganze Fahrt mitgemacht hatte, wurde er stark belastet. Schneider selbst will nur aus Zorn einmal einen Schrank mit Gläsern umgeschmissen haben. Die Mehrzahl der übrigen Angeklagten waren Angehörige der SA und der SS, die einen Befehl bekommen und meist nicht gewußt haben wollen, um was es sich überhaupt drehte. Einige gaben an, sich an Zerstörungen nicht beteiligt zu haben; sie seien nur in de Nähe der heimgesuchten Häuser gewesen. Andere schwächten ihre Beteiligung ab, während ein einziger Angeklagter offen bekannte, Einrichtungen zertrümmert zu haben.
Inwieweit diese Darstellungen richtig sind, wird die Zeugenvernehmung ergeben müssen, für die heute über 40 Personen geladen sind. Die Plaidoyers sollen nachmittags ihren Anfang nehmen.
Leserbrief in der RHEINPFALZ zum Thema Gedenkveranstaltung "Reichskristallnacht"
Leserbrief in DIE RHEINPFALZ vom 20. November 1993
Zum Artikel "Inneres der Synagoge ausgebrannt", veröffentlicht in der Ausgabe vom 10. November, heißt es:
Ich möchte Ihnen als Zeugin der Geschehnisse vor 55 Jahren, ich war damals 13 Jahre alt, schildern, wie ich es am Ort der Tat erlebt habe.
Zufällig ging ich an diesem Tage durch die - übrigens menschenleere - Bahnhofstraße. So viel ich mich erinnere, war es um die Mittagszeit, als plötzlich ein Lastwagen angefahren kam, besetzt mit einigen uniformierten SA-Männern. Sie hielten vor einem damaligen Textilgeschäft (zwischen der neuen Stadtsparkasse und der Commerzbank) an, sprangen von ihrem Wagen herunter, zertrümmerten die Schaufensterscheibe des jüdischen Ladengeschäftes, warfen Textilien und Stoffe aus der Dekoration auf die Straße, drangen in das Ladeninnere ein und kamen mit dem festgenommenen jüdischen Besitzer des Ladens wieder heraus und stießen ihn auf den Lastwagen.
Als ich daraufhin einen der SA-Männer ansprach (wohlgemerkt als 13-Jährige!) warum er das mache, der Mann hätte ihm doch gar nichts gemacht, erhielt ich (sinngemäß) die Antwort: "Halt’ dein Maul, das geht dich nichts an, mach’, dass du weiterkommst."
Ich blieb trotzdem stehen und erlebte noch, wie das Auto in die Glockengasse weiterfuhr, und die Männer dort die Synagoge anzündeten. Später habe ich erfahren, dass sie Kinder aufhetzten, Steine in die Fenster der Synagoge zu werfen. Ich ging nach Hause und erzählte es meinen Eltern, die darüber sehr erschüttert waren. Sie erzählten mir, dass sie gerne in den jüdischen Geschäften eingekauft hätten (wir waren eine Familie mit sieben Kindern), weil die jüdischen Geschäftsinhaber oft nicht den vollen Preis für ihre an solche Familien verkauften Waren verlangten.
Ich kann mir unmöglich vorstellen, wie es in dem Polizeibericht heißt, dass „die erregte Menschenmenge vor die jüdischen Geschäfte und Wohnungen zog und die Einrichtungsgegenstände und das Wohnungsinventar zerstörte.“ Ich habe jedenfalls an diesem Tag keinen Erwachsenen in der Bahnhofstraße gesehen.
Den Bericht des "örtlichen Polizeiamtes" über das damalige Geschehen in Frankenthal mit der Beschreibung "im großen und ganzen konnte festgestellt werden, dass die hiesige Bevölkerung mit der Judenaktion einverstanden war", kann ich nicht anerkennen; denn die Polizeiorgane waren in diesem Fall wahrscheinlich nicht die Stimme des Volkes. Im übrigen war den Polizeibeamten eventuell gar nicht bekannt, dass die einfachen Leute schon längere Zeit (von der Partei) bespitzelt wurden, wenn sie in jüdischen Geschäften eingekauft haben. Außerdem will ich bei dieser Gelegenheit einfügen, dass die Katholiken, die sonntags zum Gottesdienst gingen, beobachtet wurden, ja, dass sogar Eltern von ihren Kindern der Partei gemeldet wurden, wenn sie Äußerungen gegen den damaligen Hitlerstaat machten. Nun verzeihen Sie mir die Frage, ob Dr. Rainer Schulze (Grüne) und Udo Pagelkopf (DGB) sich damals an Ort und Stelle vor ihre jüdischen Mitbürger gestellt hätten, und sich damit in die Gefahr begeben hätten, dass sie selbst mit dem jüdischen Mitbürger auf dem Wagen abtransportiert worden wären.
Ich persönlich käme nie auf die Idee, anderen Menschen (ja sogar der ganzen Bevölkerung) den Vorwurf zu machen, versagt zu haben und "einer Minderheit keinen solidarischen Schutz gewährt zu haben"; denn die Bespitzelungen wurden immer schlimmer, und die Abtransporte der Juden und Christen in die "Arbeitslager" (was darin geschah, wusste das einfache Volk überhaupt nicht) wurden immer öfter durchgeführt.
(Name und Adresse der Leserbrief-Schreiberin sind bekannt. Die Zeitangaben stimmen nicht ganz mit anderen Angaben überein)
Die Ausplünderung der jüdischen Familien
NS-Verbrechen
Schnäppchenjagd unterm Hakenkreuz
Mit deutscher Gründlichkeit gingen die Beamten des Reichsfinanzministeriums zu Werke. Wie deportierte Juden systematisch enteignet wurden, das erforscht derzeit eine internationale Historikerkommission: Eingesetzt vom Bundesfinanzministerium, das endlich seine eigenen Verstrickungen im Dritten Reich aufarbeiten will – wie es auch bereits das Auswärtige Amt getan hat.
Die Reichsfinanzverwaltung stellte sich früh in den Dienst des verbrecherischen Regimes. Denn das brauchte große Summen für die Aufrüstung der Wehrmacht. Grobe Schätzungen der Historiker gehen davon aus, dass die Beutezüge der Finanzbeamten bei Juden und sogenannten „Reichsfeinden“ wie politisch missliebigen Personen etwa 119 Milliarden Reichsmark einbrachten: Rund ein Drittel dessen, was die Wehrmacht verschlang. Eigene Stäbe im Ministerium trugen ihren Teil bei im großen Prozess der Ausplünderung und der Vernichtung: Die Beamten suchten die Wohnungen deportierter Juden auf und konfiszierten, was immer sie fanden. Die zynische Vorschrift: Vor ihrer Deportation mussten Juden selbst sogenannte Vermögenslisten ausfüllen. Die Überbleibsel bürgerlicher Existenzen – Wohnungen und Konten – wurden dem Reichsvermögen einverleibt. Und bei öffentlichen Versteigerungen konnten Bürger gleich mitbieten. Die Termine wurden vorab in der Lokalpresse bekannt gegeben. Und die „Volksgenossen“ kamen scharenweise, standen Schlange.
Die Historikerin Christiane Kuller spricht von einer Schnäppchenjagd und bewertet das im ZDF-Magazin Frontal21 so: „Das sind einfachste Kleidungsstücke, die da geraubt wurden. Auch das ist ganz bürokratisch, systematisch durchgeführt worden. Es ging nicht nur um den Wert dieser Vermögen. Es ging auch ums Prinzip: Juden sollten ausgeplündert werden – ob arm oder reich.“ Nicht nur vermögende Juden also gerieten ins Visier. Von jedem nahm das Ministerium, was es kriegen konnte. Und wenn es nur ein paar Briefmarken waren. Deutsche Ordnung hatte niemals so widerwärtige Ausprägungen wie im Dritten Reich.
Ebenso perfide agierte die deutsche Steuerverwaltung bereits seit 1934. Systematisch wurden jüdische Steuerbürger diskriminiert, denn die Gesetzgebung sah vor, dass Juden den Spitzensteuersatz zahlten. Übliche Vergünstigungen für Familien galten für sie nicht. Und die „Reichsfluchtsteuer“ – Instrument gegen den Wegzug Vermögender - wurde gezielt gegen Juden eingesetzt.
Auch wenn die Historiker längst nicht am Ende ihrer Recherchen sind: Anhand der Geschichte der Finanzverwaltung wird mal wieder deutlich, dass nicht stimmen kann, dass in Deutschland kaum einer etwas mitbekam von der Judenvernichtung: In öffentlichen Versteigerungen wurden Hinterlassenschaften verscherbelt. Scharen von Kontrolleuren und Beamten zogen durch verlassene Wohnungen, um jüdische Vermögen zu katalogisieren und zu verwerten. Die deutsche Ahnungslosigkeit ist eine Lebenslüge.
ZDF 29. November 2011